Ein alter Torturm führt in den Klosterhof. Auf klobigem Renaissancewürfel erhebt sich ein zierliches Achteck mit rundbogigen Blendnischen und niederem Zeltdach. Von seiner Spitze grüßt ein großes Doppelkreuz, das alte Wahrzeichen kirchlicher Unabhängigkeit. Zu beiden Seiten liegen die ehemalige Klosterbrauerei (jetzt nicht mehr im Besitz des Klosters) und die frühere Wohnung des Stiftskanzlers. Zwischen uralten Linden strebt die Fassade der Abteikirche empor.
Mit eruptiver Kraft steigt sie auf, wie ein in Säulenform erstarrter Basaltfelsen, den vulkanische Kräfte aus dem Schoß der Erde emporpressten. Die Fassade stellt einen malerischen Gesamtorganismus dar, dem sich die Einzelteile unterordnen müssen, bisweilen bis zur Vergewaltigung von Form und Material. So ist sie ein steingewordenes Abbild des Staatsgedanken jener Zeit.
Sind auch gewisse Einflüsse der Baumeister Dienzenhofer und Prandauer unverkennbar, so bleibt die künstlerische Idee doch durchaus eigenartig. Die Grüssauer Abteikirche nimmt unter den großen Kirchenbauten Deutschlands eine Sonderstellung ein. Sie weist die überschwänglichste Durchgliederung auf deutschem Boden auf. Die Fassade wirkt wie ein gewaltiges: Sursum corda – Empor die Herzen! Überall ist der Querlinie schärfster Kampf angesagt, die Senkrechte rücksichtslos betont. Die Haltung der Statuen am Portal, die riesenhaften Säulen, der wie ganz eigenartige, das Obergeschoss der Fassade umschlingende Wulstornament, die Engelhermen der Türme, all dies lenkt den Blick des Beschauers zwangsläufig zum Himmel. Diese Gliederung gemahnt an die Gotik, die ja im Unterbewusstsein der deutschen Meister immer noch nachklang. Das Zierelement der nahenden Rokokozeit tritt schon stark in den Vordergrund. Der konstruktiv geforderte Fassadengiebel weicht einer bewegten Statuengruppe, während in die Schauseiten der Türme Ziergiebel eingeschoben werden. Die schwer gerollten Kupferhelme mit ihrer ausschweifenden Wucht stehen unter dem Einfluss böhmischer Kunst.
In der Fassade vermählt sich die anmutig gelöste Rhythmik deutschösterreichischer Donaukultur mit der phantasiefrohen Formenüppigkeit slawischen Empfindens vom Moldaustrand.
Der gesamte Statuenschmuck der Fassade ist von einem einheitlichen Gedanken erfüllt. Das Kloster Grüssau führte durch Jahrhunderte den Namen „Domus gratiae Sanctae Mariae – Gnadenhaus Mariens“. Er steht über dem Portal unter einer Krone in Stein gemeißelt. Das Wort „Gnade“ gibt den Schlüssel zur Deutung aller Bildwerke. Matthias Braun schuf die Dreifaltigkeitsgruppe, die Marienstatue, die beiden Gruppen Mariä Verkündigung und Mariä Heimsuchung, sowie die kleinen Genien auf dem Architrav. Die Standbilder des Moses und Gregorius zunächst dem Portal sind das letzte Werk des Ferdinand Maximilian Brockhof. Die vier Statuen der Heiligen Benediktus, Scholastika, Bernhard und Luitgardis gehen wahrscheinlich auf Johann Georg Gode zurück. Den aus vergoldetem Kupfer getriebenen Engel auf der Spitze der Turmhaube arbeitete 1775 Thomas Drumscheck. Die Verwendung verschiedenfarbigen Sandsteines für die Statuen gibt der Fassade eine bunte Belebung.
Die Dreifaltigkeitsgruppe versinnbildlicht den Urquell aller Gnade, die uns aus dem Schoße des Dreieinigen durch Christi Kreuzestod zufließt. Gott zeigt der Welt seinen wundenbedeckt am Kreuze hängenden Sohn. Dramatisch weist der Arm des Vaters zum Himmel. Diese Bewegung ist der letzte Ausklang der großen Vertikallinie der Fassade. Die Gruppe verrät die Linienauflösung, die zugunsten der malerischen Wirkung auf die Gesetze der Schwerkraft verzichtet. Die anbetenden Engel sind dem großen Italiener Bernini glücklich nachempfunden.
Im Mittelpunkt der Fassade steht Maria als Vermittlerin der Gnade. Was Christus am Kreuz verdiente, teilt ihre Mutterhand aus. Von hohem Reiz ist die weich wogende Linienführung in Körper und Gewandung. Die Gruppe am Nordturm Mariä Verkündigung (1733) schildert die Stunde, in der Maria die Gnadenvolle wird. Der Erzengel Gabriel grüßt sie mit diesem Ehrennamen, die Taube des Hl. Geistes schwebt auf sie herab, sie wird die Mutter des Herrn.
Mit kühnem Flügelschlag sprengt der Engel den Rahmen der Nische, ein sinnfälliger Ausdruck der inneren Spannkraft der Barockkunst. Maria bricht unter der Überlast der Gnade zusammen, eine meisterhafte Darstellung tiefsten religiösen Erlebens. Sie ist ganz Hingabe an Gott: „Siehe ich bin eine Magd des Herrn!“ Die Gruppe baut sich in der Diagonale auf. Am Südturm steht Mariä Heimsuchung (1733). Die Gottesmutter bringt anderen die Gnade. Sie besucht ihre Base Elisabeth, um ihr bei der Geburt Johannes des Täufers beizustehen, der im Mutterschoß von der Gnade des Hl. Geistes erfüllt wird. Beide Gestalten sind von starker Gegensätzlichkeit: Maria die hilfsbereite Jugend, Elisabeth das hilfsbedürftige Alter.
Das Portal mit seiner phantastisch geschwungenen und gebrochenen Bogenführung ist für die Riesenfassade eigentlich zu klein. Der Architekt musste die heftigen Stürme des Riesengebirges berücksichtigen, denen ein großes Westportal den Eintritt allzu leicht gewährt hätte. Er verband aber das darüber gelegene Fenster durch eine Säulenordnung so geschickt mit dem Portal zu einer architektonischen Einheit, dass der kleine Schönheitsfehler glücklich ausgeglichen wird. Die Kolossalfiguren des Moses und des hl. Papstes und Kirchenlehrers Gregorius des Großen sind die wertvollsten Skulpturen der ganzen Fassade, der Schwanengesang des berühmten Ferdinand Maximillian Brockhof, der sie 1729 mit dem Todeskeim im Herzen schuf. Er hat den Kraftgestalten seinen verzweifelten Willen zum Leben und Schaffen eingehaucht. Moses ist der Vertreter des Alten Bundes, des Zeitalters ohne Gnade, in dem Gottes Zorn und die geballte Faust regierten. Hier ist das ferne Gewittergrollen des Moses von Michelangelo zum leidenschaftlichen Ausbruch gesteigert, eine folgerichtige Weiterentwicklung der ruhig gemessenen Renaissance zum hoch bewegten Barock. Die emporgereckte Faust leitet den Blick des Beschauers empor; hier ist der Anfang der großen Vertikallinie, die durch die Fassade geht. Gregorius d. Große, einer der bedeutendsten Päpste, vorher Benediktinermönch (+604), versinnbildlicht den Neuen Bund, das Zeitalter der Gnade, in dem die gütig segnende Vaterhand waltet.
Die vier weiteren Statuen sind nach Modellen Brockhofs gearbeitet, die das Kloster 1731 aus einem Nachlass erwarb. Ihre Ausführung fällt gegen die markigen Gestalten Brockhofs durch allzu weiche und süßliche Formung ab. Links hält der hl. Benediktus, der Stifter des Benediktinerordens (+543), sein Regelbuch zum Himmel empor, das durch 1400 Jahre zahllosen Gottsuchern Wegweiser war. Neben ihm steht seine heilige Zwillingsschwester Scholastika (+543), die den weiblichen Zweig des Ordens begründete. Die Taube auf ihrer Hand erinnert an die Legende, ihre reine Seele sei in Gestalt einer Taube zum Himmel emporgestiegen. Beide Heiligen wurden durch ihren Orden Gnadenvermittler für Deutschland, dessen mittelalterliche Hochkultur eine Benediktinerkultur war.
Rechts ist der hl. Abt und Kirchenlehrer Bernhard von Clairvaux (+1153) dargestellt, der Erneuerer der Zisterzienser, eines Zweiges des Benediktinerordens. Er umarmt die Leidenswerkzeuge Christi, eine Anspielung auf seine mystische Liebe zum leidenden Heiland. Die Nonne an seiner Seite ist die hl. Luitgardis (+1246), eine berühmte Zisterzienserin.
Der Zisterzienserorden vermittelte dem deutschen Osten, zumal Schlesien, die Gnadensegnungen christlicher Kultur. So sind auch diese 1733 gearbeiteten vier Statuen der Ordensheiligen ein Glied im Gnadenmotiv der Fassadenskulpturen
Weniger straff ordnen sich die sechs Genien auf dem Architrav in diesen Gedanken ein. Man könnte sie das Inhaltsverzeichnis nennen, das dem Innern der Kirche vorangesandt wird. Sie erläutern mit ihren Attributen die Ehrennamen des Erlösers, wie sie bei Isaias 9, 6 vorherverkündet sind: „Sein Name wird genannt Admirabilis – Wunderbarer. Cosiliarius – Ratgeber, Deus – Gott, Fortis – Starker, Pater futuri saeculi – Vater der Zukunft, Principes pacis – Friedensfürst.“ Die gleichen Namen bilden das Leitmotiv für den Freskenschmuck der sechs Gewölbefelder der Abteikirche.